Zwischen Energiesicherheit und Klimaschutz
Die Folgen des Kriegs in der Ukraine stellten den Energiesektor 2022 vor enorme Herausforderungen. Über die gemeinsame Anstrengung für Versorgungssicherheit und Klimaschutz sprachen wir mit Andreas Kuhlmann, Geschäftsführer der Deutschen Energie-Agentur (dena), und Dr. Hendrik Neumann, Chief Technology Officer bei Amprion.
Wie lautet Ihr persönliches Fazit angesichts eines Jahres, das von Krisen geprägt war?
ANDREAS KUHLMANN Das Jahr 2022 hat gezeigt, wie fragil Frieden, Sicherheit und Wohlstand sein können. Trotzdem gab es auch ermutigende Signale: Wir konnten sehen, dass Deutschland viel kann, wenn es muss.
DR. HENDRIK NEUMANN Gerade bei der Bewältigung der Energiekrise haben wir unter Beweis gestellt, dass wir gemeinsam schnell und kurzfristig handeln können. Blicken wir nur einmal auf den Winter zurück: Wir hatten alle großen Respekt vor der besonderen Situation. Doch wir haben uns sorgfältig vorbereitet, unsere Prozesse weiterentwickelt und konnten so die Systemsicherheit zu jeder Zeit gewährleisten.
Ist die Energiekrise ein Bremsklotz oder ein Beschleuniger der Energiewende?
AK Ob die Krise dauerhaft ein Beschleuniger ist, wird sich zeigen. Viel hängt davon ab, ob die jetzt eingeschlagene Geschwindigkeit zum Standard wird. Das ist umso wichtiger für die Dekarbonisierung, die umfassende Veränderungen mit sich bringt.
HN Aus meiner Sicht war die Krise ein Impuls dafür, Kräfte zu mobilisieren und mutige Maßnahmen zu ergreifen. Dazu gehört die wichtige Beschleunigung von Genehmigungsverfahren. Ultranet beispielsweise – unsere Verbindung zwischen Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg – kann nun ein Jahr früher als geplant in Betrieb gehen.
AK Unabhängig vom vergangenen Jahr ist Deutschland für mich nach wie vor eines der spannendsten Energiewendelabore der Welt. Hier gibt es so viele Akteure sowie innovative Lösungsansätze und Konzepte, die weltweit als Vorbild dienen können. Den Ideen, die hier entstehen, müssen wir mehr Raum geben. Oft verlieren wir uns in Deutschland noch zu sehr in Details.
Ob die Krise dauerhaft ein Beschleuniger ist, wird sich zeigen. Viel hängt davon ab, ob die jetzt eingeschlagene Geschwindigkeit zum Standard wird.
Für die Versorgungssicherheit in Deutschland musste 2022 mehr Kohle verstromt werden. Heißt das, Energiesicherheit und Klimaschutz widersprechen sich?
HN Ganz klar: nein. Maßnahmen wie die Rückkehr der Kohlekraftwerke in den Markt waren für die Energiesicherheit im Winter notwendig. An den Klimaschutzzielen hat das aber nichts geändert. Bis 2030 will Deutschland aus der Kohle aussteigen. Der 10-Punkte-Plan von Amprion zeigt, was dafür notwendig ist – technisch, aber auch regulatorisch.
AK Unter dem Lösungsdruck der Krise stand die Energiesicherheit im Fokus. Nun gilt es, die getroffenen Entscheidungen auch mit Blick auf den Klimaschutz kritisch zu hinterfragen: War alles, was wir in der Krise gemacht haben, zwingend erforderlich? Was können wir wieder zurückschrauben? Und wie kann die Umstellung auf die erneuerbaren Energieträger dauerhaft gelingen?
HN Die Transformation zum klimaneutralen Energiesystem ist das zentrale gemeinsame Ziel. Um dies erfolgreich zu meistern, braucht es unter anderem Veränderungen im Marktdesign. Wie das aussehen kann, haben wir mit unserem Konzept des Systemmarkts vorgestellt. So können wir konventionelle Kraftwerke dann auch adäquat ersetzen – und Energiesicherheit mit Klimaschutz vereinen.
Was kann Europa für die Energiesicherheit leisten?
AK Eine der Kernaufgaben Europas ist es, bei steigender Integration erneuerbarer Energien ausreichend gesicherte Leistung und eine passende Infrastruktur zur Verfügung zu stellen. Eine europäische Koordination braucht es aber nicht nur bei Strom, sondern auch bei Gasen wie Wasserstoff oder dessen Derivaten.
HN Das europäische Verbundnetz ist das Rückgrat für die Energiesicherheit. Aber klar, auch hier gibt es Risiken. Bestes Beispiel ist die fehlende Verfügbarkeit französischer Kernkraftwerke im letzten Winter. Wichtig ist deshalb, diese Risiken immer im Blick zu haben. Dies haben wir unter anderem in unserer Sonderanalyse für den Winter und dem anschließenden Monitoring getan.
AK Was die Entwicklung hin zu einem europäischen Energiesystem weiter erschwert, sind die vielen regulatorischen Hürden. Diese werden zwar Schritt für Schritt abgebaut. Aber wenn man langsam startet, muss man auf der Strecke mehr und mehr Geschwindigkeit aufnehmen.
Blicken wir zurück auf Deutschland. Wie sieht der Wandel des Energiesystems aus?
HN Das Energiesystem wandelt sich vollständig. Dies hängt mit der Integration erneuerbarer Energien zusammen: Strom wird über immer weitere Distanzen transportiert. Man denke nur an die 70 GW an Offshore-Windenergie im Jahr 2045. Aufgrund der hohen Volatilität der Einspeisung brauchen wir eine hohe Flexibilität im Energiesystem.
AK Gerade die dezentrale Stromerzeugung erfordert ein besseres Zusammenspiel der einzelnen Akteure. Das heißt zum Beispiel, nicht nur Übertragungsnetze, sondern auch Verteilnetze schnell auszubauen. Nur so kommt die Energiewende auch bei den Menschen an – wenn es etwa darum geht, die steigende Zahl an Photovoltaikanlagen, Wärmepumpen und Elektroautos anzuschließen.
HN Diese Veränderungen müssen auch wir als Übertragungsnetzbetreiber berücksichtigen, weil sie unser Geschäft komplexer machen. Wir arbeiten daher eng mit unseren Partnern in den Verteilnetzen zusammen. Das ändert aber nichts an unserem Auftrag, die Stabilität des Gesamtsystems zu gewährleisten.
„In diesem herausfordernden Jahr konnten wir unsere Rolle als »trusted advisor« gegenüber der Bundesregierung einmal mehr unter Beweis stellen. Der ehrliche und konstruktive Austausch war wirklich bereichernd – und stimmt mich optimistisch.“
Was macht Sie optimistisch, dass die Energiewende gelingt?
HN Besonders hervorheben möchte ich die gute Zusammenarbeit aller beteiligten Akteure. In diesem herausfordernden Jahr konnten wir unsere Rolle als „trusted advisor“ gegenüber der Bundesregierung einmal mehr unter Beweis stellen. Der ehrliche und konstruktive Austausch war wirklich bereichernd – und stimmt mich optimistisch.
AK Die neue Dynamik aufseiten der Politik kann ich bestätigen. Gleichzeitig sehe ich das große Netzwerk von Start-ups und jungen Menschen, die alle mit unglaublich viel Engagement an diesen Themen arbeiten. Und es werden immer mehr, die das gestalterische Element zum Status quo machen. Eine äußerst positive Entwicklung.
HN Diesen Willen, etwas zu gestalten, sehe und spüre ich auch bei Amprion jeden Tag. Wir haben ein engagiertes Team, das mit innovativen Maßnahmen und großer Motivation zur Transformation des Energiesystems beitragen will.