„Hauptschaltleitung“ – hinter diesem Begriff verbirgt sich das Herz der Systemführung. An drei Arbeitsplätzen überwachen Schaltingenieure die Stromflüsse – rund um die Uhr, an jedem Tag der Woche. Ihr wichtigstes Arbeitsmittel: das 18 Meter breite und sechs Meter hohe Rückmeldebild. Für den Laien sehen die roten und grünen Linien, Punkte und Rechtecke wie ein geometrisches Muster aus. Den Schaltingenieuren geben sie Auskunft, welche Kraftwerke gerade ins Netz einspeisen und welche Leitungen sowie Umspannanlagen Strom übertragen – und das in einem Beobachtungsgebiet von der französischen Atlantikküste bis nach Tschechien. „Die nationalen Stromnetze sind in Europa längst eng miteinander verbunden“, sagt Dr. Christoph Schneiders, Leiter der Hauptschaltleitung Brauweiler. „Wenn es in einem Nachbarland ein Problem gibt, kann uns das auch betreffen. Deshalb haben wir so ein großes Gebiet im Blick.“
„So gut die Vorarbeit der Kollegen auch ist – die Stromeinspeisung aus Wind und Sonne lässt sich nie hundertprozentig vorhersagen. Ohne ständiges Nachsteuern geht es deshalb nicht.“ Christoph Schneiders
Nur wenn Stromerzeugung und -verbrauch ausgeglichen sind, arbeitet das Wechselstromnetz mit der idealen Frequenz von 50 Hertz. Damit das in jeder Sekunde so bleibt, gehen Schneiders und seine Kolleg*innen auf Nummer sicher. „N-1“-Kriterium heißt ihr oberstes Gebot. Es besagt, dass das Netz auch bei Spitzenlast stabil bleiben muss, wenn ein beliebiges Betriebsmittel –Leitung, Transformator oder Kraftwerksblock – ausfällt. Diesen möglichen Ausfall simulieren IT-Systeme ständig wiederkehrend, alle 15 Minuten. Anhand der Ergebnisse prüfen die diensthabenden Schaltingenieure dann, ob in einem solchen Fall noch genügend andere „Autobahnen“ zur Verfügung stehen, um den Strom sicher zu übertragen. Ähnliches gilt für die Stromproduktion aus Wind und Sonne.
In der Hauptschaltleitung gehen ständig Informationen darüber ein, wie sich die Stromeinspeisung durch erneuerbare Energien tatsächlich entwickelt und ob dieser Strom auch transportiert werden kann.
Gleichwohl kann selbst eine perfekte Vorbereitung nicht jede Überraschung verhindern. „So gut die Vorarbeit der Kolleg*innen auch ist – die Stromeinspeisung aus Wind und Sonne lässt sich nie hundertprozentig vorhersagen“, sagt Christoph Schneiders. „Ohne ständiges Nachsteuern geht es deshalb nicht.“
Aus diesem Grund steht den Schaltingenieuren ein Instrumentenkasten zur Verfügung, um Frequenzschwankungen auszugleichen. Primär- und Sekundärregelleistung sowie Minutenreserve heißen drei dieser Instrumente. Dahinter verbergen sich flexible Kraftwerke, die wahlweise binnen 30 Sekunden, fünf oder 15 Minuten ihre Einspeisung erhöhen oder senken können. Mit diesen Kraftwerken haben Amprion und andere Übertragungsnetzbetreiber vereinbart, dass sie ständig einsatzbereit sind.
Reichen diese Maßnahmen nicht aus, können die Schaltingenieure beispielsweise große Stromverbraucher für eine gewisse Zeit vom Netz nehmen. Das betrifft jedoch keine Haushaltskunden, sondern energieintensive Unternehmen, die sich dafür im Rahmen einer Ausschreibung angeboten haben und einen finanziellen Ausgleich erhalten. „Abschaltbare Lasten“ nennen die Expert*innen in Brauweiler diese Option, für die es eine klare gesetzliche Vorschrift gibt. „Redispatch“ heißt eine weitere Maßnahme bei Stromproblemen. Sie ermöglicht es Schneiders und seinen Kolleg*innen, in die vereinbarten Einsatzfahrpläne von Kraftwerken einzugreifen. Die Ingenieure können konventionelle Kraftwerke, aber auch Wind- und Solaranlagen herunter regeln oder an anderer Stelle die Einspeisung erhöhen. Diese Eingriffe verursachen jedoch bei den Kraftwerksbetreibern Zusatzkosten, für die sie einen Ausgleich erhalten. Nach aktuellen Aussagen der deutschen Übertragungsnetzbetreiber erreichten die Redispatch-Kosten im Jahr 2017 in Deutschland mit 1,4 Milliarden Euro einen neuen Höchststand – ein Indiz dafür, wie häufig das Übertragungsnetz mittlerweile an der Kapazitätsgrenze arbeitet.
Draußen ist es inzwischen dunkel geworden. Joachim Vanzetta ist zufrieden: Der Stromtag ist planmäßig verlaufen, es gab weder unvorhergesehene Schwankungen bei den erneuerbaren Energien noch kritische Netzengpässe. Doch der Trend ist klar: Die Herausforderungen für das Netz wachsen mit dem Ausbau der erneuerbaren Energien: 2017 trugen sie bereits mehr als 38 Prozent zur Stromerzeugung in Deutschland bei. Der Anteil soll nach dem Willen der Bundesregierung bis 2030 auf 65 Prozent steigen. Die Variablen in der Stromgleichung werden damit noch stärker schwanken als bisher. Mehr als einen Vorgeschmack lieferte der Winter 2016/17 bereits. Kraftwerksausfälle im In- und Ausland sowie eine Dunkelflaute hatten das Netz extrem belastet. Diese vierwöchige kritische Situation konnten die Ingenieure in enger Zusammenarbeit mit ihren Kolleg*innen bei anderen Übertragungsnetzbetreibern im In- und Ausland bewältigen. Und sie haben daraus gelernt: „Wir brauchen noch intelligentere IT-Systeme und weiterhin eine enge Kooperation mit unseren europäischen Kollegen“, sagt Vanzetta.
"Innovation ist nicht alles. Um das Netz auch künftig sicher führen zu können, müssen wir es zügig ausbauen.“ Joachim Vanzetta
Er zeigt auf das Backsteingebäude gegenüber von seinem Büro. Dort richtet Amprion seine neue Hauptschaltleitung ein. Ihr Herzstück ist ein innovatives Netzleitsystem, an dem die Expert*innen in Brauweiler gemeinsam mit Herstellern arbeiten. Vanzetta ist stolz auf dieses und andere Projekte, in denen die Amprion-Systemführung ihre Expertise unter Beweis stellt. Neue Technologien und Methoden in der Systemführung voranzutreiben, sei für ihn und sein Team essentiell. „Schließlich tragen wir Verantwortung für eine der volkswirtschaftlich bedeutendsten Infrastrukturen“, sagt er. „Eines ist aber auch klar: Innovation ist nicht alles. Um das Netz auch künftig sicher führen zu können, müssen wir es zügig ausbauen.“