Im Takt mit Europa: Baltische Stromnetze sind synchronisiert

Netzbetrieb
Lesedauer: 5 Min.
Ein estischer Grenzstein bei Dämmerung am Ufer eines Flusses. Im Hintergrund ein Wasserkraftwerk und Strommasten.
Amprion hat die Synchronisierung der baltischen Staaten in das kontinentaleuropäische Verbundnetz begleitet und unterstützend koordiniert.

Als ENTSO-E-„Coordination Centre North“ hat der Übertragungsnetzbetreiber Amprion die Synchronisation von Lettland, Estland und Litauen in das kontinentaleuropäische Verbundnetz eng begleitet und koordinierend unterstützt. Sie ist am Sonntag um 13.05 Uhr vollzogen worden. Die baltischen Staaten sind damit aus der historischen Einbindung in das russische IPS/UPS-Verbundsystem der ehemaligen UdSSR herausgelöst.

Die Synchronisierung lief nach Plan, wie Dr. Christoph Schneiders, Leiter Operative Netz- und Systemführung bei Amprion, anschließend im  Interview mit WDR 5 berichtete. Eine gewisse Anspannung gab es vorher durchaus, denn eine solche Synchronisation ist alles andere als alltäglich. Doch nun lässt sich festhalten: Das Baltikum ist "in one heartbeat with Europe", wie es der lettische Übertragungsnetzbetreiber auf den Punkt gebracht hat: Die Taktschläge des Baltikums und Kontinentaleuropas sind angeglichen.

Sechs Jahre Vorbereitung

Dr. Schneiders berichtete im Interview von den Hintergründen: Die drei baltischen Staaten hatten beschlossen, sich vom russischen Stromnetz zu trennen, an das sie zuvor angebunden waren, und sich mit dem kontinentaleuropäischen Netz zu verbinden. Das war keine unmittelbare Reaktion auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Die Vorbereitungen hatten schon lange vorher, vor rund sechs Jahren, begonnen. Der Schritt dient aber natürlich dazu, sich weiter unabhängig von Russland zu machen. Unmittelbar beteiligt an der Synchronisation waren sowohl die baltischen Übertragungsnetzbetreiber, der polnische Übertragungsnetzbetreiber PSE als physikalische Verbindung zum Baltikum, Amprion als auch die russische Seite. Direkten Kontakt mit Russland hatte Amprion in seiner koordinierenden Rolle jedoch nicht – das übernahmen die Übertragungsnetzbetreiber der baltischen Staaten.

Technisch besteht sowohl bei einer Trennung als auch bei einer Synchronisierung die Herausforderung darin, dass beide Parteien dafür sorgen müssen, dass sich die jeweiligen Netze in Bezug auf die technischen Kenngrößen Spannung und Frequenz angleichen und die Netze in einem stabilen Zustand sind. So wurden die Leitungen zwischen den baltischen Staaten und Russland Schritt für Schritt abgetrennt und bei der Verbindung der baltischen Staaten mit dem kontinentaleuropäischen Netz Schritt für Schritt zugeschaltet.

Ein Mann, Dr. Christoph Schneiders, steht in Geschäftskkleidung vor einem schwarzen Monitor mit bunt leuchtenden Schaltkreisen. Er deutet sprechend mit seiner linken Hand auf einen Bereich des Monitors.

Die ganze Prozedur war generalstabsmäßig vorbreitet, inklusive Notfallplänen für unvorhergesehene Ereignisse.

Dr. Christoph Schneiders

-

Leiter Operative Netz- und Systemführung bei Amprion

Doch bis es so weit war, bedurfte es technischer Analysen. Teilweise musste in den baltischen Stromnetzen auch zuerst technisches Equipment neu aufgebaut werden. Bei der Planung und Durchführung selbst war eine sehr enge Abstimmung zwischen allen Partnern wie internationalen Netzbetreibern und Kraftwerken entscheidend für den Erfolg. Alle Mitarbeiter*innen in den Leitwarten der verschiedenen Länder wurden zuvor geschult und trainiert. “Die ganze Prozedur war generalstabsmäßig vorbreitet, inklusive Notfallplänen für unvorhergesehene Ereignisse“, sagt Dr. Schneiders. Die gab es aber glücklicherweise nicht: „Das nun um das Baltikum gewachsene kontinentaleuropäische Verbundnetz läuft stabil mit einer konstanten Frequenz von 50 Hertz.“

Für knapp einen Tag waren die baltischen Staaten während des Umstellungsprozesses eine „Insel“ – das war genauso geplant: Sie hatten sich Samstagvormittag vom russischen Netz abgetrennt; Leitung für Leitung. Bis zur Synchronisierung mit dem kontinentaleuropäischen Netz am Sonntagmittag war das Baltikum dann in einen Inselbetrieb gegangen. Das heißt: Die Länder betrieben ihr eigenes Stromnetz kurzzeitig autark und hatten keine Verbindung zu anderen Netzen nach außen, abgesehen von den Seekabeln nach Skandinavien.

Systemtest im Inselbetrieb bestanden

Der Zweck: In dieser Zeit konnten die drei Länder ihre Systeme testen, ohne das kontinentaleuropäische oder das russische Netz zu beeinflussen. Die Ergebnisse dienten als Nachweis, dass das Netz, das angeschlossen werden sollte, bestimmten Kriterien genügt – beispielsweise, schnell genug auf Störereignisse reagieren zu können. Estland, Lettland und Litauen haben alles „bestanden“ – der Synchronisierung am Sonntag stand somit nichts mehr im Wege.

Wie nutzt die Synchronisation der Netze nun dem Baltikum und Europa insgesamt, abgesehen vom wichtigen Punkt der Unabhängigkeit von Russland? „Die drei Staaten sind jetzt dauerhaft mit dem europäischen Stromnetz verbunden. Dadurch stützen sich die Netze gegenseitig und es kann Stromhandel untereinander betrieben werden“, erklärt der Leiter der Operativen Netz- und Systemführung. „Durch die Integration der baltischen Staaten in das kontinentaleuropäische Netz ist das Stromnetz in Europa größer geworden. Und davon profitieren alle an das Netz angeschlossenen Länder.“ Ohne das europäische Stromnetz wäre das baltische Netz aufgrund der geringeren Größe anfälliger für Störungen, etwa durch Frequenzschwankungen.

Gesprächssituation: Dr. Christoph Müller sitzt in Geschäftskleidung an einem Tisch. Im Vordergrund ist eine weitere Person von hinten erkennbar. Herr Dr. Müller gestikuliert in Richtung der Person.

Ein herzliches Willkommen an die Kolleginnen und Kollegen der baltischen Übertragungsnetzbetreiber.

Dr. Christoph Müller

-

CEO von Amprion

Amprion-CEO  Dr. Christoph Müller würdigte das Ereignis und die Leistung der Kolleg*innen: „Ein herzliches Willkommen an die Kolleginnen und Kollegen der baltischen Übertragungsnetzbetreiber Elering, Augstsprieguma tīkls AS und Litgrid im kontinentaleuropäischen Verbundnetz und ein großer Dank an unsere Kolleginnen und Kollegen in Brauweiler und den anderen europäischen Hauptschaltleitungen für die erfolgreiche Anbindung.“

© Headerbild: iStock.com/M-Production