Herausforderung Systemführung: Um Stromerzeugung und -verbrauch im Gleichgewicht zu halten, benötigen die Übertragungsnetzbetreiber einen gut ausgestatteten Werkzeugkasten.
Jeden Tag ab etwa 17 Uhr beginnt in Deutschland das ganz normale Feierabendszenario: Millionen Menschen kommen von der Arbeit nach Hause, kochen sich etwas zu essen, machen es sich vor dem Fernseher gemütlich. Die Wohnungen sind angenehm temperiert und beleuchtet. Entspannung ist angesagt. Andernorts geht die Arbeit weiter – etwa in den Schaltzentralen, die das deutsche Stromnetz rund um die Uhr überwachen. Und es ist durchaus möglich, dass die Ingenieure dort ins Schwitzen geraten, wenn andere den Feierabend genießen. Kommt es zu Unregelmäßigkeiten im Netz, müssen sie umgehend reagieren und die richtigen Entscheidungen treffen. Der Verbraucher bekommt von alldem nichts mit. Doch dass seine Wohnung hell bleibt und der Fernseher weiterläuft, ist keine Selbstverständlichkeit – denn das Elektrizitätsversorgungssystem ist ein komplexes Gebilde, das von vielen unterschiedlichen Faktoren beeinflusst wird. Es stabil zu halten, ist in den letzten Jahren immer anspruchsvoller geworden. Wir erklären, warum.
Der Kraftwerkspark und die Stromnetze in Europa sind so konzipiert, dass die tatsächliche Frequenz nie um mehr als 0,2 Hertz von der Netzfrequenz 50 Hertz abweicht. Das gilt auch, wenn die Netze stark ausgelastet sind – weil etwa viel Windenergie eingespeist wird, an heißen Tagen unzählige Klimaanlagen anspringen oder die Industrieproduktion auch an einem kalten Wintertag auf Hochtouren läuft. Um diese Frequenz zu halten, müssen Stromeinspeisung und -verbrauch stets im Gleichgewicht sein – und zwar bei jedem Wetter und in jeder Sekunde des Tages.
Zwischen den Extremen liegen Welten
Je mehr Wind- und Sonnenstrom eingespeist wird, desto größer ist die Herausforderung, das Netz stabil zu führen. Früher haben konventionelle Kraftwerke in Deutschland genauso viel Strom produziert, wie auch verbraucht wurde. Heute schwankt die Stromeinspeisung aus Windrädern und Solaranlagen genauso wie das Wetter. An trüben und windstillen Tagen stehen die Windräder im Norden still. Kommt noch Schneefall im Süden hinzu, speisen auch Solaranlagen kaum Energie ins Netz ein. Zu ebenso extremen Netzsituationen kommt es an Tagen, an denen viel Wind im Norden und Sonnenschein im Süden so viel Energie bereitstellen, dass sie den Verbrauch in Deutschland vollständig abdecken – oder sogar mehr Energie produzieren, als benötigt wird. Die Bandbreite zwischen diesen Extremen ist enorm.
Hinzu kommt, dass Wind und Sonne dort Strom erzeugen, wo das Wetter dafür am günstigsten ist – und nicht dort, wo der Strom benötigt wird. „Lastferne Erzeugung“ nennen Experten diese Situation. Wurde der Strom früher rund 60 Kilometer vom Erzeuger zum Verbraucher transportiert, legt er heute die mehrfache Strecke zurück. Dadurch nimmt die Auslastung der Stromautobahnen deutlich zu. Ein weiterer Faktor ist der europäische Strombinnenmarkt. Immer mehr Energie wird an den europäischen Strombörsen gehandelt und über das deutsche Netz ausgeliefert. Auch dadurch können Netzengpässe entstehen.
Die Arbeit der Systemführung
All diese unterschiedlichen Situationen muss die Systemführung von Amprion in Brauweiler bei Köln meistern. Deshalb plant ein Team aus Elektroingenieuren, Börsenexperten, Wetterspezialisten und IT-Profis jeden einzelnen Stromtag mit großem Vorlauf. Einige Ereignisse lassen sich im Voraus terminieren, etwa Wartungsarbeiten an Kraftwerken, Leitungen und Umspannanlagen. Für das Wetter und den Handel an den Strombörsen gilt das hingegen nicht. Sobald absehbar ist, dass die Gleichung zwischen Erzeugung und Verbrauch nicht wie geplant aufgeht, müssen die Schaltingenieure kurzfristig reagieren. Denn kommt es infolge von Ungleichgewichten zu Frequenzabweichungen, besteht Gefahr für die Systemstabilität.
Um Schwankungen auszugleichen und die Netzfrequenz immer möglichst nah am Sollwert von 50 Hertz zu halten, verfügt die Amprion-Systemführung in Brauweiler über einen gut gefüllten Instrumentenkasten. Schon bei einer Abweichung von 0,01 Hertz greifen Maßnahmen wie Primärregelreserve und in der Abfolge Sekundärregelreserve sowie die Minutenreserve – verschiedene Arten der sogenannten Regelreserve, mit deren Hilfe sich die Netzfrequenz schnell und gezielt regeln lässt. Dahinter verbergen sich ständig einsatzbereite Kraftwerke, die wahlweise binnen 30 Sekunden, fünf oder 15 Minuten ihre Einspeisung erhöhen oder senken können.
Wenn regenerative Kraftwerke an besonders sonnigen oder windreichen Tagen zu viel Energie einspeisen, kann die Systemführung konventionelle Kraftwerke als sogenannten Redispatch , aber auch Wind- und Solaranlagen im Rahmen des sogenannten Einspeisemanagements herunterregeln oder an anderer Stelle die Einspeisung erhöhen. Diese Maßnahmen schützen Leitungsabschnitte vor Überlastung. Das Herunterregeln regenerativer Kraftwerke dient jedoch nur als letzte Maßnahme, da für erneuerbare Energien ein Einspeisevorrang gilt. Auch für diesen Eingriff durch die Übertragungsnetzbetreiber in die Regelung erhalten die Kraftwerksbetreiber einen finanziellen Ausgleich.
Enger Informationsaustausch für hohe Versorgungssicherheit
In Deutschland ist das Niveau der Versorgungssicherheit seit vielen Jahren hoch. Dass die benötigten Energiemengen für Industrie und private Verbraucher jederzeit zur Verfügung stehen, ist jedoch keine Selbstverständlichkeit. Vielmehr steckt dahinter eine komplexe Planungs- und Koordinierungsaufgabe. Um sie zu meistern, müssen Netzbetreiber, Erzeuger, Händler und Industriekunden eng und verantwortungsvoll zusammenarbeiten. Entscheidend ist dabei der Austausch der Informationen, wie sich die Stromeinspeisung und der Verbrauch entwickeln. Ob Wetterprognosen, Kraftwerksfahrpläne sowie Ereignisse an den Strombörsen – je zeitnäher diese Daten den Netzbetreibern vorliegen, umso besser können sie Schwankungen im System ausbalancieren oder gar vermeiden.