2023 wird ein entscheidendes Jahr für die Energiewirtschaft. Um eine klimafreundliche, sichere und bezahlbare Energieversorgung für den Industriestandort Deutschland dauerhaft zu gewährleisten, müssen in diesem Jahr die richtigen Weichen gestellt werden. Dies gelingt nur mit Innovationen im Netzausbau, im Strommarktdesign sowie in der Systemplanung, sagt Dr. Hans-Jürgen Brick, CEO des Übertragungsnetzbetreibers Amprion.
Die Energiewirtschaft in Deutschland und Europa steht aktuell vor besonderen Herausforderungen. Die Versorgungssituation in diesem Winter ist angespannt. Als Übertragungsnetzbetreiber haben wir uns intensiv vorbereitet und leisten unseren Beitrag, um die Systemstabilität und Versorgungssicherheit aufrecht zu erhalten. Die aktuelle Energiekrise in Folge des russischen Angriffs auf die Ukraine beschleunigt zudem eine Entwicklung, die wir bereits seit Jahren sehen: Die Stromnetze und der Strommarkt geraten zunehmend an ihre Grenzen. Nur mit Innovationen in der Infrastruktur, im Markt und in der Systemplanung gelingt uns der Umbau des Energiesystems. Denn um das Ziel der Klimaneutralität im Jahr 2045 zu erreichen, benötigen wir nicht weniger als eine Vervierfachung der heute installierten Leistung aus Erneuerbaren Energien. Der Stromsektor nimmt dabei eine Vorreiterrolle ein.
Nur mit Innovationen in der Infrastruktur, im Markt und in der Systemplanung gelingt uns der Umbau des Energiesystems.
Der Handlungsdruck ist enorm
Einer aktuellen Studie der britischen Association for Renewable Energy and Clean Technology (REA) zufolge landet Deutschland beim Umbau der Energielandschaft im Vergleich mit 13 europäischen Ländern mittlerweile auf dem letzten Platz. Insgesamt sieht die Studie in Deutschland zwar einen starken Konsens für die Energiewende, jedoch gelinge die Umsetzung politischer und regulatorischer Veränderungen nur langsam.
Die gute Nachricht: Die aktuelle Bundesregierung hat im vergangenen Jahr wichtige Impulse für den beschleunigten Ausbau der erneuerbaren Energien auf den Weg gebracht. Die Stromnetze wurden dabei bislang jedoch nicht ausreichend berücksichtigt. Dafür benötigen wir einheitliche Regeln, die auf möglichst viele Projekte angewendet werden können. Das Natur- und Artenschutzrecht muss vereinfacht und Bestandstrassen müssen stärker genutzt werden. Beschleunigung kann aber auch durch Innovationen in einzelnen Projektphasen entstehen. So konnte Amprion im vergangenen Jahr erstmalig vier anstatt zwei der zur Verlegung von Offshore-Leitungen unter Norderney notwendigen Bohrungen für die Projekte DolWin4 und BorWin4 gleichzeitig durchführen. Klar ist aber: Die wirksame Beteiligung der Bevölkerung und der Kommunen muss stets gewährleistet sein.
Die Zeit ist reif für ein neues Strommarktdesign
Die aktuellen Verwerfungen zeigen zudem, dass der Strommarkt zunehmend an seine Grenzen gerät, weil er die dahinterliegende Infrastruktur nicht berücksichtigt. Markt und Netz müssen zusammenwirken. Was bedeutet das konkret? Der Markt muss Anreize setzen, damit die dringend benötigten Systemdienstleistungen für das Stromnetz bereitgestellt werden – und das technologieneutral. Amprion hat dafür das Konzept des Systemmarkts entwickelt. Der Systemmarkt gewährleistet, dass Kraftwerke, Speicher und Elektrolyseure zukünftig an den richtigen Stellen im Netz verortet sind. Nur dann kann ein klimafreundliches, sicheres und bezahlbares Energiesystem entstehen. In diesem Jahr startet die Plattform „klimaneutrales Stromsystem“ der Bundesregierung. Wir werden unser Konzept des Systemmarkts dort einbringen und wollen damit auch einen Beitrag dafür leisten, dass die einheitliche Preiszone in Deutschland erhalten bleibt.
Systementwicklungsstrategie bietet Leitplanken
Für eine stabile Transformationsphase brauchen wir außerdem Leitplanken: Eine gemeinsame Planung der Sektoren Strom, Gas, Wärme und Wasserstoff ist notwendig, um das zukünftige Energiesystem so effizient wie möglich zu gestalten. Das Ziel muss sein, in einem gemeinsamen Szenariorahmen die Leitplanken für die nachfolgenden Netzplanungsprozesse zu setzen. Dabei sollte die Netzplanung Strom maßgeblich sein, da Strom beim Umbau des Energiesystems zur Leitinfrastruktur wird. Denn nur wenn die große Nachfrage nach Strom für die Elektrifizierung industrieller Prozesse gedeckt wird, kann auch der dringend erwartete Wasserstoffhochlauf funktionieren. Eine gemeinsame Systementwicklungsstrategie bietet allen beteiligten Akteuren Planungssicherheit.
Mit Innovationen und Beschleunigung gelingt uns die Transformation des Energiesystems. Die aktuelle Krise ist eine enorme Herausforderung für unsere Gesellschaft. Sie stellt aber auch eine Chance dar, um in diesem Jahr die entscheidenden Weichen für den Umbau der Energielandschaft zu stellen – und nicht nur darüber zu reden.
Dieser Beitrag ist im Januar 2023 zuerst im Handelsblatt-Journal zum Thema Energiewirtschaft erschienen. Hier finden Sie das E-Paper (nur für Abonnenten zugänglich).