Neustart für den Strommarkt

Energiewirtschaft
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Das Energiesystem muss die Transformation zur Klimaneutralität und zu einer stärkeren geopolitischen Unabhängigkeit meistern. Das Strommarktdesign ist der Schlüssel dazu. Die Debatte nimmt Fahrt auf.

Mehr erneuerbare Energien, der Turbo im Netzausbau, neue Energieträger wie Wasserstoff– die Energiewirtschaft steht vor einer Jahrhundertaufgabe. Die Dynamik hat auch den Strommarkt ergriffen. Jenes Marktsegment, das Erzeuger und Abnehmer zusammenbringt und für eine verlässliche Stromversorgung zum günstigsten Preis sorgen soll. „Der Strommarkt in seiner bisherigen Form gerät an seine Grenzen“, sagt Amprion-CEO Dr. Hans-Jürgen Brick. Auch Dr. Matthias Stark, Leiter Fachbereich Erneuerbare Energiesysteme im Bundesverband Erneuerbare Energie (BEE), kritisiert das heutige System.

Der Transformationsdruck steigt

Die Debatte über eine Neuausrichtung des Strommarkts hat begonnen – und erscheint dringender denn je. Das Tempo beim Umbau des Energiesystems hat im Frühjahr 2022 noch einmal angezogen: Die Corona-Krise und der Kampf gegen den Klimawandel haben den Transformationsdruck auf die Volkswirtschaft erhöht. Der Krieg in der Ukraine hat Deutschland schmerzhaft vor Augen geführt, wie abhängig das Land von Energieträgern aus dem Ausland ist – und wie notwendig eine Neuorientierung wäre. Diese Entwicklungen spiegeln sich auch im Strommarkt wieder: Der Preis für eine Megawattstunde schwankte im März zwischen 80 Cent und dem neuen Spitzenwert von 700 Euro.

Dr. Hans-Jürgen Brick

Kritik am bisherigen Marktdesign

Die Debatte über den Strommarkt macht sich an verschiedenen Punkten fest. „Das heutige System benachteiligt die Erneuerbaren Energien, insbesondere Wind- und Photovoltaik-Anlagen, bei Vermarktung und Preisfindung“, kritisiert BEE-Experte Stark. Amprion-CEO Brick moniert, dass der Strommarkt in seiner jetzigen Form nicht mehr dafür sorge, dass die beste Lösung zum günstigsten Preis gefunden werde: „Auch wenn es wichtig ist – es reicht nicht, nur darüber nachzudenken, ob im Jahr 2030 ausreichend gesicherte Erzeugung vorhanden ist“, sagt Brick. Vielmehr müssten im Strommarkt alle Elemente betrachtet werden, die für einen sicheren Systembetrieb notwendig seien. Dazu würden auch zentrale netz- und systemstützende Aufgaben gehören, die beispielsweise für die Netzfrequenz notwendig sind.

Dr. Ingrid Nestle

Der Strommarkt bleibt wichtig

Die grundlegende Funktion des Strommarkts ist dabei unbestritten: „Auf dem Weg hin zu einer sicheren, unabhängigen und kostengünstigen Energieversorgung auf Basis von 100 Prozent Erneuerbaren Energien benötigen wir sowohl national als auch auf europäischer Ebene den richtigen gesetzlichen Rahmen“, sagt Dr. Ingrid Nestle (MdB), Sprecherin für Klimaschutz und Energie der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. „Der Ort, wo sich die Sektoren berühren und sinnvoll interagieren müssen, ist der Strommarkt." Der müsse in Zukunft auch auf die Systemsicherheit einzahlen, fordert Amprion-CEO Brick. „Strommarkt und Stromnetz sind nicht als getrennte Systeme zu betrachten.“ Nur so lasse sich eine stabile und verlässliche Energieversorgung für die Industriegesellschaft erhalten.

Dr. Christoph Maurer

Durch ein erweitertes Marktdesign würde das Energiesystem ein solideres Fundament bekommen, um die Transformation zu Klimaneutralität und zu stärkerer Unabhängigkeit zu meistern, sagt Brick. „Wir sollten die Möglichkeiten des Marktes weiter nutzen, damit wir den Umbau kosteneffizient erreichen können.“ Ein neues Marktdesign müsste langfristig tragfähig sein und – so Brick – eine einheitliche deutsche Preiszone erhalten, damit der Industriestandort Deutschland weiterhin von den Vorteilen eines großen Marktgebiets profitiere. „Die Energiewende ist auf das verteilte Wissen vieler Akteure angewiesen. Gut designte Märkte helfen, deren unternehmerische Kreativität für die Erreichung unserer Energie- und Klimaziele nutzbar zu machen“, sagt Dr. Christoph Maurer, Geschäftsführer der Beratungsgesellschaft Consentec und Sachverständiger der Bundesregierung für Fragen des Energiemarktes.

Die Strommarkt-Debatte nimmt Fahrt auf

Amprion treibt die Debatte über ein neues Strommarktdesign voran. „Wir fördern den Austausch darüber – so wie wir dies bereits in der Debatte über ein Zielbild für das Energiesystem 2050 getan haben“, sagt CEO Dr. Hans-Jürgen Brick. Im Projekt Systemvision 2050 lädt Amprion Partner ein, die Energiewende „zu Ende zu denken“ und nach ihren Vorstellungen zu modellieren, wie das Energiesystem der Zukunft aussehen kann.

Die Bundesregierung nimmt die branchenweite Debatte um ein neues Marktdesign auf, indem sie ab Mai zum Dialog auf der Plattform „Klimaneutrales Stromsystem“ aufruft. „Die Dinge werden dadurch konkreter“, freut sich Brick. In die Debatte bringt Amprion einen eigenen Vorschlag ein: Der „Systemmarkt“ bilde die zunehmende Komplexität der Energiewelt ab und „versöhnt Versorgungssicherheit und Systemstabilität“. Und vor allem: Weil er auf dem bestehenden Markt aufsetzt, kann er schnell starten.