Wie ist in Deutschland in den kommenden Jahren eine sichere und zuverlässige Stromversorgung zu gewährleisten? Eine wichtige Antwort liefert der Leistungsbilanzbericht der vier deutschen Übertragungsnetzbetreiber. Seine Perspektive allein reicht künftig aber nicht mehr.
Jederzeit ein sicheres und zuverlässiges Stromnetz – daran sind die Menschen und Unternehmen in Deutschland gewohnt. Damit das auch in Zukunft so bleibt, spielen die Übertragungsnetznetzbetreiber Amprion, 50Hertz, Tennet und TransnetBW in ihrem Leistungsbilanzbericht regelmäßig durch, wie viel Strom in den kommenden Jahren in Deutschland erzeugt und verbraucht wird – und wie viel Strom unter Umständen importiert werden müsste, um das Stromsystem im Gleichgewicht zu halten.
Was genau liefert der Leistungsbilanzbericht?
In der Vergangenheit war in Deutschland immer genug Strom vorhanden – der Markt war unter normalen Umständen liquide. Im Zweifel füllten konventionelle Kraftwerke die auftretenden Erzeugungslücken. Der Worst Case einer Unterversorgung war unwahrscheinlich. Der Leistungsbilanzbericht der Übertragungsnetzbetreiber zielt daher darauf abzuschätzen, ob auch in einer Extremsituation die Versorgung gewährleistet ist – also Erzeugung und Verbrauch jederzeit im Gleichgewicht sind. Dabei orientiert der Bericht sich an der voraussichtlich kritischsten Situation im Stromnetz. Das ist ein Zeitpunkt, an dem es sehr kalt ist, die Sonne bereits untergegangen ist und kaum Wind weht, aber die Gesellschaft noch aktiv ist und viel Strom verbraucht. In einem solchen Fall würden erneuerbare Erzeugungsanlagen kaum Strom ins Netz einspeisen – bei gleichzeitig hohem Strombedarf.
Darüber, wie wahrscheinlich eine solche Extremsituation ist, trifft der Leistungsbilanzbericht keine Aussage. Dies war in der Vergangenheit schlicht nicht notwendig. Er betrachtet bewusst den Worst Case. Experten sprechen von einer deterministischen Methode. Die Leitfrage: Was wäre der schlimmste Fall – und wie kann die Stromversorgung selbst unter widrigsten Umständen aufrechterhalten werden?
Veränderte Erzeugungslandschaft
Heute allerdings gehen Kern- und Kohlekraftwerke vom Netz – und damit schwindet sichere Leistung im System. Gemeint ist eine Leistung, die von Wetterbedingungen unabhängig und daher gut planbar ist. Hintergrund: Deutschland baut die erneuerbaren Energien weiter aus. Windkraft- und Solaranlagen aber speisen – anders als konventionelle Kraftwerke – wetterbedingt stark schwankend Strom ins Netz ein. Sie liefern keine sichere Leistung.
Erweiterte Perspektive
Der Worst Case einer Unterversorgung im System wird künftig wahrscheinlicher. Es wird daher nicht nur wichtig, eine Extremsituation im Blick zu halten, sondern auch Prognosen darüber zu haben, wie häufig Extremsituationen auftreten und die Sicht auf Europa auszuweiten. Davon lässt sich zum Beispiel ableiten, welche Kraftwerksreserven über welche Zeiträume vorgehalten werden müssen. Experten sprechen von einer probabilistischen, also einer die Wahrscheinlichkeit berücksichtigenden Methode. Auf ihr basieren Untersuchungen etwa des Bundeswirtschaftsministeriums oder des Verbands der europäischen Übertragungsnetzbetreiber ENTSO-E sowie weitere nationale und europäische Analysen (siehe Abb.). Sie berücksichtigen von vorneherein die verfügbare Erzeugung in Europa. Die Leitfrage lautet dort: Wie wahrscheinlich ist es, dass es im Rahmen des europäischen Strommarktes zu einer Unterversorgung in Deutschland kommen wird – und was wäre dann zu tun? Diese probabilistische Betrachtung wird zum wichtigen zweiten Prüfstein für die Versorgungssicherheit in Deutschland – und ergänzt die deterministische Betrachtung. Die Übertragungsnetzbetreiber werden den aktuellen Leistungsbilanzbericht daher weiterentwickeln und um eine probabilistische Sichtweise erweitern.
Beide Untersuchungsmethoden zeigen unabhängig voneinander, dass Deutschland in Zukunft stärker auf Stromimporte angewiesen sein wird. Der aktuelle Leistungsbilanzbericht der vier Übertragungsnetzbetreiber sagt für eine angenommene Extremsituation im Jahr 2022 einen Importbedarf von 7,2 Gigawatt Leistung voraus. Dieser Wert liegt deutlich über den Ergebnissen der vorangehenden Leistungsbilanzberichte. Diese Prognose bezieht bereits den Fahrplan der Bundesregierung für den Kohleausstieg ein – auch wenn dieser zum Stichtag der Veröffentlichung des aktuellen Leistungsbilanzberichts noch nicht gesetzlich fixiert ist.
Der Leistungsbilanzbericht verdeutlicht einmal mehr, wie stark sich Veränderungen in der Erzeugungslandschaft auf die Sicherheit der Stromversorgung auswirken. Der geplante Kohleausstieg im Rahmen der Energiewende wird diese Entwicklung weiter beschleunigen. Darauf müssen sich alle Akteure der Energiewirtschaft einstellen – zumal der Strombedarf in Deutschland durch die Dekarbonisierung der Wirtschaft weiter steigen wird. Die Übertragungsnetzbetreiber werden ihre Infrastruktur im kommenden Jahrzehnt darauf ausrichten.