In Kriftel steht ein technischer Superlativ. Die leistungsstärkste Hybridanlage im europäischen Stromnetz stabilisiert und sichert die Stromversorgung des Rhein-Main-Gebiets.
Die Umspannanlage in Kriftel, einer Gemeinde im Main-Taunus-Kreis zwischen Frankfurt und Wiesbaden, ist wegen ihrer zentralen Lage ein wichtiger Knotenpunkt im deutschen Stromnetz. Denn die Metropolregion Rhein-Main zählt zu den wichtigsten Industrie- und Wirtschaftsstandorten in Deutschland. Hier leben fast sechs Millionen Menschen. Frankfurt ist ein Finanzplatz von weltweiter Bedeutung, und die Region spielt eine herausragende Rolle in der IT-Infrastruktur: Über 85 Prozent der nationalen und 35 Prozent der internationalen Internetdaten werden über den Deutschen Commercial Internet Exchange in Frankfurt abgewickelt. Außerdem ist mit dem Industriepark Höchst am Main einer der größten Industrieparks des Landes angesiedelt. Kurz gesagt: Ohne eine stabile Stromversorgung läuft hier nichts. Zur hohen Versorgungssicherheit in der Region leistet die Umspannanlage Kriftel schon seit 2004 einen bedeutenden Beitrag. Mit Blick auf die Zukunft hat Amprion sie von 2016 bis 2018 erweitert und mit einem neuen technischen Glanzstück ausgestattet.
„Hessen will seinen Energiebedarf im Jahr 2050 vollständig aus erneuerbaren Quellen decken. Das erfordert auch einen Umbau unserer Stromnetze. Die Investition von Amprion in Kriftel ist ein wichtiger Beitrag zur Energiewende in unserem Bundesland.“
Jens Deutschendorf, Staatssekretär im Hessischen Ministerium für Wirtschaft, Energie, Verkehr und Wohnen
Leistungsstärkste Hybridanlage ihrer Art
Im Krifteler Läusgrund steht die erste Hybridanlage zur Blindleistungskompensation im Amprion-Netz, die zugleich die leistungsstärkste ihrer Art in Europa ist. Nach erfolgreichem Probebetrieb seit Ende 2018 hat Amprion die neue Anlage am 30. August 2019 offiziell in Betrieb genommen und somit einen wichtigen Meilenstein des Netzausbaus erreicht.
Kleiner Exkurs: Wozu braucht man Blindleistung?
Für die Energieübertragung mit Wechselstrom ist Blindleistung unerlässlich. Sie wird genutzt, um das Spannungsniveau im Netz bei der Übertragung großer Leistungen über weite Strecken stabil zu halten – etwa, um im Norden erzeugten Windstrom in den industriereichen Süden Deutschlands zu transportieren. Mithilfe von Blindleistung kann die Spannung im Stromnetz je nach Bedarf angehoben oder abgesenkt werden. Bisher haben vorwiegend die Generatoren großer Kraftwerke Blindleistung erzeugt. Da im Zuge des Kohle- und Atomausstiegs viele von ihnen vom Netz gehen, setzen Netzbetreiber wie Amprion zunehmend selbst neue Technologien für die Bereitstellung von Blindleistung ein.
„Die Energiewende verändert die Struktur der Stromerzeugung im deutschen Stromnetz. Das erfordert einerseits einen Ausbau des Übertragungsnetzes und andererseits dessen Ergänzung um Blindleistungskompensationsanlagen“, sagt Joëlle Bouillon, Projektsprecherin bei Amprion. „Diese Kompensationsanlagen helfen uns dabei, die erheblichen Spannungsschwankungen auszugleichen, die durch die schwankende Einspeisung erneuerbarer Energien an den Netzknoten entstehen.“
Blindleistungskompensation in Kriftel
In Kriftel steht eine Hybridanlage zur Blindleistungskompensation. Hybrid bedeutet, dass sie aus zwei Einheiten besteht: einem mechanisch geschalteten Kondensator mit Dämpfungsnetzwerk (MSCDN) und einem Static Synchronous Compensator (STATCOM).
Die MSCDN-Anlage basiert auf Kondensatoren, mit denen sich die Spannung im Netz anheben lässt. Sie verringert die erforderliche Übertragung von Blindstrom auf den angrenzenden Leitungen und erhöht so die maximale Übertragungsleistung. Die STATCOM-Anlage ist eine Kompensationsanlage zur Umformung elektrischer Energie, mit der sich die Spannung im Netz sowohl anheben als auch absenken lässt. Auch sie wird eingesetzt, um das Spannungsniveau im Netz aufrechtzuerhalten. Mit ihr ist die Blindleistung stufenlos und sehr schnell einstellbar, sodass Amprion unmittelbar auf wechselnde Bedingungen im Netz reagieren und die Spannung stabilisieren kann.
„Indem wir solche Anlagen gleichmäßig im Übertragungsnetz verteilen, müssen wir die Blindleistung nicht über weite Strecken transportieren und können so die Leitungen effizient für den Energietransport nutzen“, sagt Marc Großmann aus dem Bereich Primärtechnik und Betriebsmittel bei Amprion und Teilprojektleiter STATCOM. „Aufgrund ihrer zentralen Lage im Frankfurter Raum und an einer wichtigen Nord-Süd-Achse im Übertragungsnetz war es in der Umspannanlage Kriftel besonders sinnvoll, eine Anlage zur Blindleistungskompensation zu installieren.“
Die Hybridanlage hat Amprion gemeinsam mit dem Systempartner Siemens errichtet. Sie ist die leistungsstärkste nicht nur im deutschen, sondern auch im europäischen Netz. Die STATCOM hat eine Nennleistung von +/- 300 Mvar* (spannungshebend und spannungssenkend) und ist mit einer Reaktionszeit von ungefähr 40 Millisekunden stufenlos regelbar. Die Systemführung kann verschiedene Regelungsfunktionen verwenden, vom Handbetrieb über verschiedene Automatikmodi bis zur Gegensystemregelung. Die MSCDN-Anlage hat eine spannungshebende Nennleistung von -300 Mvar* und kann je nach Bedarf durch die Systemführung aber auch unmittelbar durch die STATCOM-Anlage geschaltet werden.
„Durch optimiertes Schalten von vielen elektronischen Modulen trägt die neue Hybridanlage in Kriftel dazu bei, das Spannungsniveau im Netz stabil zu halten und damit weiterhin die hohe Versorgungssicherheit in der Region zu gewährleisten“, fasst Dr. Klaus Kleinekorte, technischer Geschäftsführer von Amprion, die Vorzüge der innovativen Technik zusammen.
Festakt und Tag der offenen Tür
Die Inbetriebnahme dieser besonderen, erweiterten Umspannanlage hat Amprion am 30. August mit einem kleinen Festakt mit Vertretern der Landes- und Lokalpolitik und der beteiligten Projektpartner gefeiert. Bei einem anschließenden Tag der offenen Tür haben die Anwohner und interessierte Technikbegeisterte die seltene Gelegenheit genutzt, sich die Umspannanlage aus der Nähe anzuschauen. Neben der hybriden Anlagentechnik konnten die Besucher sich auch den Anlagenbereich aus dem Jahr 2004 sowie die vier neuen 380-Kilovolt-Schaltfelder, eine Sammelschiene und eine Umgehungsschiene ansehen, um die die Anlage erweitert worden ist. Amprion-Mitarbeiter erklärten bei geführten Rundgängen, wie über die Schaltfelder und Schienen die verschiedenen Leitungen, die in Kriftel zusammentreffen, miteinander verbunden werden können. Eine wichtige Aufgabe der Umspannanlage ist es, die mit 380 Kilovolt hertransportierte Energie auf die Spannungsebene von 110 Kilovolt zu transformieren, um sie so über das regionale Verteilnetz zu den Verbrauchern bringen zu können.
„Wir sind sehr stolz, dass wir hier in Kriftel an einem ganz besonderen Netzknotenpunkt unserer Verantwortung für die Region nachkommen können", sagt Amprion-Projektleiter Thorsten Scherz. „Wir bedanken uns bei allen Projektpartnern, den Behörden und insbesondere der Gemeinde Kriftel für die konstruktive Zusammenarbeit bei den Planungen und in der anschließenden Bauphase. Und wir danken den Anwohnern für ihre Nachsicht während der Bauarbeiten. Wir haben uns sehr darüber gefreut, dass so viele Krifteler unserer Einladung zur Einweihung der erweiterten Anlage gefolgt sind.“
* Für Blindleistungen wird die Einheit var (“Volt-Ampère-réactif”) verwendet. Man nutzt nicht die Einheit Watt, um Verwechslungen mit Wirkleistungen zu vermeiden.
Bildergalerie: Feierliche Inbetriebnahme am 30. August 2019
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