Wie muss das Stromnetz aussehen, wenn sich Deutschland von Atom- und Kohlestrom verabschiedet? Zusätzlicher Netzausbau ist unverzichtbar, heißt es im zweiten Entwurf des Netzentwicklungsplans (NEP) 2030. Allerdings braucht es weniger neue Leitungen, als noch 2017 vorgesehen waren.
Der Abschied von der Kohle ist eingeleitet: Die von der Bundesregierung eingesetzte Kohlekommission hat empfohlen, die Stromgewinnung aus Kohle bis spätestens Ende 2038 zu beenden. Bereits bis 2022 sollen knapp zwölf Gigawatt (GW) Leistung aus Kohlekraftwerken aus dem Netz genommen werden. Parallel werden die deutschen Kernkraftwerke im Zuge des Atomausstiegs abgeschaltet. Erneuerbare Energien werden weiter ausgebaut. „Damit wandelt sich unser Energiesystem in einer Geschwindigkeit wie nie zuvor“, sagt Dr. André Seack, bei Amprion zuständig für Netzanalysen und Projektentwicklung im Rahmen des Netzentwicklungsplans (NEP).
Er hat für den zweiten Entwurf des NEP 2030, den die Übertragungsnetzbetreiber am 15. April 2019 der Bundesnetzagentur übergeben haben, durchgerechnet, wie sich der Wandel auf die sogenannte gesicherte Leistung im Netz auswirkt. Also jene Leistung, die mit hoher Wahrscheinlichkeit ständig mindestens verfügbar ist – eine wichtige Größe, um die Versorgungssicherheit zu beurteilen. „Im mittleren Szenario B des NEP verlieren wir in Summe etwa sieben GW gesicherte Leistung bis 2030. Sollten die Vorschläge der Kohlekommission umgesetzt werden, sind es sogar knapp zwei GW mehr“, sagt Seack voraus. Für ihn steht fest: Ohne ein leistungsfähigeres Netz wird dieser Ausfall nicht zu kompensieren sein. Zum einen müssen die wachsenden Mengen an Strom aus erneuerbaren Energien aufgenommen werden und in die Verbrauchszentren transportiert werden. Zum anderen ist in Zeiten mit geringer Produktion aus erneuerbaren Energien ein hoher Austausch mit den Nachbarländern notwendig. Das führt dazu, dass eine erhöhte elektrische Leistung über immer größere Distanzen transportiert werden muss. Zum Teil sind die Leitungen über 250 Prozent ausgelastet – in einer Häufigkeit von bis zu 3.000 Stunden im Jahr.
Obwohl deutlich mehr erneuerbare Energien angeschlossen und die Anforderungen an das Übertragungsnetz erheblich gestiegen sind, sind im NEP-Entwurf 2019 allerdings rund 280 Kilometer weniger Netz vorgesehen als im ersten Entwurf 2017. „Zusammen mit den anderen Übertragungsnetzbetreibern haben wir massive Anstrengungen unternommen, um den Netzausbau-Bedarf so gering wie möglich zu halten“, sagt Seack. So haben die Netzentwickler unter anderem verstärkt den Einsatz von Technologien wie dem Adaptiven Freileitungsbetrieb und Phasenschiebertransformatoren in der Netzplanung und in der Betriebsführung berücksichtigt. Implizit in den NEP eingeflossen sind auch solche Innovationen, die heute noch nicht bereitstehen, aber zukünftig den Netzausbau-Bedarf reduzieren können. „Dieses Innovationspotenzial von fünf GW ist eine besondere Herausforderung, weil wir die konkrete Ausgestaltung hierfür noch nicht parat haben“, sagt Seack. „Wir arbeiten daher mit Hochdruck an Lösungen wie Power-to-Gas, die perspektivisch dazu beitragen können, die Netze zu entlasten.“
Zudem können gegenüber 2017 neu in die Planung aufgenommene Verbindungen mit Hochspannungs-Gleichstrom-Übertragung (HGÜ) den insgesamt erforderlichen Netzausbau reduzieren. Das gilt etwa für die neue Nord-Süd-Verbindung im Korridor B. Er ist gerade im Hinblick auf den geplanten Kohleausstieg eine wichtige Option: Mit einer Übertragungskapazität von vier GW und Ausspeisepunkten in Uentrop und Polsum erhöht die Trasse unter anderem die Versorgungssicherheit im industriell geprägten Nordrhein-Westfalen.
Unter dem Strich ist ein zusätzlicher Netzausbau im Zuge des Kohle- und Kernkraftausstiegs unverzichtbar. „Selbst bei einer optimalen Ausnutzung des Bestandsnetzes und dem Einsatz innovativer Technologien“, so Seack.