„Unsere Sicherungssysteme haben einen Blackout verhindert.“

Netzbetrieb
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 Dr. Frank Reyer, Leiter Netzführung und Systemsteuerung bei Amprion
Dr. Frank Reyer, Leiter Netzführung und Systemsteuerung bei Amprion, leitet die Taskforce zur Aufklärung der Systemauftrennung im europäischen Stromnetz am 8. Januar 2021. Im Interview erklärt er die wichtigsten Erkenntnisse aus dem Zwischenbericht der Übertragungsnetzbetreiber, der am 26. Februar veröffentlicht wurde.

Herr Dr. Reyer, die europäischen Übertragungsnetzbetreiber haben sich in den vergangenen Wochen intensiv mit den Ursachen der Systemauftrennung beschäftigt. Zu welchen Ergebnissen sind Sie gekommen?

Der Zwischenbericht bringt viel Klarheit über den Vorfall. Dank der engagierten Zusammenarbeit der europäischen Übertragungsnetzbetreiber konnten wir Daten aus den Leitwarten und den Betriebsmitteln auswerten und eine genaue Chronologie der Ereignisse erstellen. Am 8. Januar hatten wir einen sehr hohen Leistungstransport von Südost- nach Nordwesteuropa. Dies lag unter anderem daran, dass in Südosteuropa in dieser Woche das orthodoxe Weihnachtsfest gefeiert wurde. Wie immer in Wochen mit Feiertagen war der Stromverbrauch vergleichsweise niedrig. Gleichzeitig war es in Westeuropa sehr kalt, was den Strombedarf in die Höhe getrieben hat. Dieser hohe Leistungstransport hat zu einer Überlastung in der kroatischen Umspannanlage Ernestinovo geführt. Dort hat ein sogenannter Sammelschienenkuppler ausgelöst. In der Folge waren weitere Betriebsmittel überlastet und haben sich automatisch abgeschaltet.

Normalerweise können Ausfälle eines Netzelementes vom Rest des Systems aufgefangen werden. Warum hat das in diesem Fall nicht funktioniert?

Die Übertragungsnetzbetreiber treffen täglich eine Vielzahl von Vorbereitungen, um den sicheren Betrieb ihrer Netze zu gewährleisten. Sie berechnen im Vorhinein sämtliche Leistungsflüsse im Netz, identifizieren mögliche Probleme und leiten geeignete Gegenmaßnahmen ein. In unserem konkreten Fall hat der kroatische Übertragungsnetzbetreiber HOPS seinen Sammelschienenkuppler in der Sicherheitsberechnung nicht berücksichtigt. Bislang ist das auch nicht verpflichtend vorgeschrieben, wobei allerdings viele Übertragungsnetzbetreiber – auch wir bei Amprion – diese Betriebsmittel dennoch in ihre Analyse einbeziehen. In Ernestinovo ist es so letztlich zu einer besonders gravierenden sowie unvorhergesehenen Überlastung und deswegen zum Ausfall gekommen. Das allein hätte jedoch noch keine größere Störung verursacht. Aufgrund der hoch belasteten Ausgangslage wurde das Netz in Südost-Europa jedoch bereits sehr nahe an der technischen Grenze betrieben. Das heißt: Der Leistungstransport hat noch funktioniert, der Ausfall konnte dann jedoch nicht mehr aufgefangen werden.

Wie konkret war die Gefahr eines europaweiten Blackouts?

Glücklicherweise haben unsere Schutzmaßnahmen Schlimmeres verhindert. Unser Zwischenbericht zeigt, dass die Netzauftrennung tatsächlich einem regionalen Blackout entgegengewirkt hat. Nach dem Ausfall der zweiten Leitung war das Netz nicht mehr stabil. Unsere automatischen Instrumente im Netz haben diese Instabilität erkannt, sodass sie weitere Leitungen abschalten und das Problem quasi isolieren konnten. So wurde das Netz zwar getrennt, aber beide Bereiche waren bis auf wenige Einschränkungen generell noch funktionstüchtig. Durch weitere automatisierte Prozesse wurden beide Netzteile innerhalb von 15 Sekunden stabilisiert und die Abweichungen der Frequenzen abgemildert.

Was sind die wichtigsten Erkenntnisse aus dem Vorfall?

Zunächst einmal haben wir gesehen, dass unsere Maßnahmen gegriffen haben. Nach der Systemauftrennung im Jahr 2006 haben wir umfangreiche Vorkehrungen getroffen, um unser Netz noch besser vor möglichen Schäden zu schützen und damit auch die Versorgungssicherheit im System bewahren zu können. Diese Schutzmaßnahmen haben sich jetzt bewährt. Sie funktionieren auch, wenn das Netz bereits unter Stress steht. Sehr positiv ist außerdem, dass die Zusammenarbeit der europäischen Übertragungsnetzbetreiber hervorragend geklappt hat. Gemeinsam konnten wir die Störung innerhalb von nur einer Stunde beheben. Das ist ein großer Erfolg.

Müssen sich die Übertragungsnetzbetreiber darauf einstellen, dass solche Vorfälle zukünftig öfter vorkommen?

Die Störung am 8. Januar hat uns noch einmal gezeigt, wie komplex und sensibel das europäische Verbundsystem ist. Daher betrachten wir den Vorfall auch als eine Art Warnschuss. Gerade weiträumige Leistungstransporte werden in Zukunft noch zunehmen, sodass wir hier gemeinsam mit der Politik und der Öffentlichkeit Lösungen finden müssen. Es ist dabei unsere Aufgabe, das Netz so aufzustellen, dass wir solche Situationen auch zukünftig sicher beherrschen können.

Was bedeutet das konkret?

Vor allem müssen wir dem Netz wieder mehr Luft verschaffen. Wenn wir es an seinen technischen Grenzen betreiben, kann jeder Fehler zum ernsthaften Problem werden. Und wir müssen in Zukunft noch genauer hinschauen, wie es um die Auslastung, die Spannung und die Stabilität des Netzes bestellt ist.

Was sind die nächsten Schritte bei der Aufarbeitung des Vorfalls?

Wir werden die Erkenntnisse aus dem Zwischenbericht weiter analysieren und daraus unsere Lehren ziehen. Da es sich um eine schwerwiegende Störung handelt, berufen wir entsprechend der europäischen Gesetzgebung eine Expertenkommission ein, an der neben Vertretern der europäischen Übertragungsnetzbetreiber auch Vertreter der Agency for the Cooperation of Energy Regulators, kurz ACER, und den europäischen Regulierungsbehördenteilnehmen werden. Neben der detaillierten Störungsaufklärung werden wir sorgfältig analysieren, wie die automatischen und manuellen Maßnahmen gewirkt haben und welche Empfehlungen wir daraus ableiten. Wir werden die interessierte Öffentlichkeit weiterhin auf dem Laufenden halten.

Vielen Dank für die Erläuterung, Herr Dr. Reyer!