von Dr. Hans-Jürgen Brick

Politik und Energiewirtschaft haben in den Krisenjahren 2022/23 die Systemstabilität und Versorgungssicherheit aufrechterhalten. Damit das auch auf dem Weg zu einem klimaneutralen Energiesystem gelingt, hilft ein Blick ins Physikbuch, sagt Dr. Hans-Jürgen Brick, CEO des Übertragungsnetzbetreibers Amprion.

Zwei Jahre Energiekrise: Politik und Energiewirtschaft haben in dieser Zeit in beeindruckender Weise die Systemstabilität und Versorgungssicherheit aufrechterhalten. Die Bundesregierung hat zudem viel dafür getan, den Netzausbau zu beschleunigen und so die Transformation hin zu einem klimaneutralen Energiesystem voranzutreiben. Doch reicht das, damit das Energiesystem von morgen auch sicher ist? Dazu bräuchte es ein Gesamtkonzept für den Systemumbau, das sich zurückbesinnt auf die Physik. Auch wenn es sich manche Politiker*innen anders wünschen - die Gesetze der Physik macht nicht der Deutsche Bundestag. Begriffe wie Momentanreserve, Blindleistung oder transiente Stabilität sind sicherlich zu sperrig für Parteiprogramme. Sie entscheiden aber über das Gelingen der Energiewende!

Im Jahr 2045 sollen in Deutschland mehr als 600 Gigawatt Leistung an erneuerbaren Energien installiert sein. In manchen Stunden werden 400 Gigawatt gleichzeitig ins Netz einspeisen. Das entspricht ungefähr dem Fünffachen der heutigen Maximallast, für die unsere Netze ausgelegt sind. Der Transportbedarf von Nord- nach Süddeutschland wird auf mehr als 100 Gigawatt Leistung anwachsen. Sicher wird unser Energiesystem dann nur bleiben, wenn wir Systemstabilität und Versorgungssicherheit zusammen betrachten. Denn die Kraftwerke, das Netz und der Verbrauch bilden immer eine physikalische Einheit. Leider findet dies in der Realität zu wenig Beachtung.

Ein Beispiel: Die Bundesnetzagentur hat bis 2030 einen Bedarf von wasserstoffbasierten Gaskraftwerken mit einer Leistung von 21 Gigawatt ausgewiesen. Sie sind notwendig, um die Leistungsbilanz – also das richtige Verhältnis von Erzeugung und Verbrauch als elementarem Baustein der Versorgungssicherheit – künftig aufrechtzuerhalten. Ohne diese zusätzlichen Kraftwerke ist ein Kohleausstieg bis 2030 nicht möglich. Doch wenn die Politik nicht zugleich regelt, wo und mit welchen Fähigkeiten sie gebaut werden, liefern sie keinen Beitrag zur Stabilität des Systems. Das wäre aber notwendig.

Sicher wird unser Energiesystem nur bleiben, wenn wir Systemstabilität und Versorgungssicherheit zusammen betrachten.
Dr. Hans-Jürgen Brick, CEO, Amprion

Das Stromsystem stabil halten – mit Physik

Strom fließt über das Netz zu den Verbrauchern und folgt dabei physikalischen Gesetzen. Unsere Aufgabe als Übertragungsnetzbetreiber ist zunächst, dieses System stabil zu halten und das Stromnetz nicht zu überlasten. Dafür nutzen wir physikalische Größen wie Frequenz und Spannung. Nun müssen wir uns darauf vorbereiten, dass künftig immer mehr Strom über immer weitere Strecken fließt. Der Netzausbau ist die eine Antwort auf diese Herausforderung. Die andere Antwort besteht darin, Gaskraftwerke und Großverbraucher wie Elektrolyseure und Speicher gleich dort zu errichten, wo sie das Netz möglichst wenig belasten. Auch hier sollte die Politik der Physik folgen.

Das Stromnetz muss aber auch robust arbeiten, wenn der Verbrauch schwankt, wenn Wind und Sonne volatil einspeisen oder wenn es zu einer Störung kommt. Übertragungsnetzbetreiber nutzen dafür Systemdienstleistungen. Dazu zählen die sogenannte Momentanreserve, um die Frequenz zu stabilisieren, aber auch die Blindleistung, die wir für die Spannungshaltung im Netz benötigen. Bislang lieferten vorwiegend Großkraftwerke mit ihren stetig rotierenden Massen diese wichtigen Produkte. Sie verschaffen im Fehlerfall wertvolle Sekunden, um in den Leitwarten der Netzbetreiber Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Künftig müssen immer mehr die Erneuerbare-Energien-Anlagen sowie die Verbraucher diese Instrumente liefern. In den nächsten fünf Jahren sollen noch einmal 200 Gigawatt Wind und Photovoltaik ans Netz angeschlossen werden. Wenn diese Anlagen nicht die richtigen Systemdienstleistungen erbringen und wenn sich der weitere Zubau erneuerbarer Energien nur auf Basis der aktuellen geltenden Anschlussregeln vollzieht, werden wir die Stabilität des Stromnetzes nicht sichern können.

Wir haben ein Umsetzungsproblem

Technisch ist vieles möglich – es geht aber zu langsam voran. Das wird auch anhand der kürzlich veröffentlichten "Roadmap Systemstabilität" der Bundesregierung deutlich. Das ist ein bedeutender Schritt – aber eben nur ein erster. Die Zeit bis zum Kohleausstieg 2030 läuft unaufhaltsam. Ohne ein Gesamtkonzept für den Systemumbau, das den Regeln der Physik folgt und schnell umgesetzt wird, werden wir Kohleausstieg und Klimaneutralität aber nicht erreichen – und laufen Gefahr, das Energiesystem gegen die Wand zu fahren.

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Dieser Beitrag ist im Januar 2024 zuerst im Handelsblatt-Journal zum Thema Energiewirtschaft erschienen. Hier finden Sie das komplette  E-Paper (für Abonnent*innen) und hier den Beitrag als PDF: