Vielfalt erhalten
Naturschutz unter Stromleitungen? Biotopmanagement macht es möglich. Ein entsprechendes Konzept setzt Amprion seit über 20 Jahren um. Davon profitieren auch seltene Orchideenarten im Hunsrück.
Ein milder Herbsttag im Naturschutzgebiet „Wiesen am Hirtenborn“ im Hunsrück, ganz in der Nähe des Mittelrheintals bei Bacharach. Vertrocknete Gräser schaukeln im Wind. Ein paar Schritte weiter wuchern Himbeersträucher, dazwischen junge Birken. Ein ökologisches Kleinod, genau unter einer Stromleitung.
Kaum vorstellbar: Im Mai blühen hier Heilkräuter und Orchideenarten, die es in Rheinland-Pfalz nur noch sehr selten gibt, etwa das Breitblättrige, das Weiße und das Kleine Knabenkraut. „Was die Champions League für Fußballfans ist, sind die Orchideenwiesen für Naturschützer“, sagt Joachim Jacobs, Förster im Naturschutzgebiet. „Wir haben hier eine absolut schützenswerte Fläche mit mehr als 150 Pflanzenarten.“
Größere Vielfalt durch Biotopmanagement
Ließe man Sträucher und Bäume sprießen, wären die Orchideen im Naturschutzgebiet bald verschwunden. Zudem könnten die emporschießenden Bäume die Stromversorgung gefährden, wenn sie die Leitung erreichen. Beides wollen Joachim Jacobs und Amprion-Biotopmanager Matthias Spielmann vermeiden. Spielmann ist dafür zuständig, den Pflanzenwuchs auf den Freileitungstrassen zu überwachen, die sich Mast für Mast, Kilometer für Kilometer durch Teile der Region ziehen, durch Wälder und über Felder.
Der 25-Jährige öffnet einen Aktenordner mit der Aufschrift „Biotopmanagement“. Darin ist fein säuberlich aufgeführt, in welchem Rhythmus und wie genau die Pflanzen auf der Trasse zu pflegen sind. „Anfangs war vorgesehen, dass wir die Fläche hier mulchen“, sagt Matthias Spielmann. Mulchen – das bedeutet: Eine Maschine arbeitet sich durch das Gestrüpp, schreddert es und hinterlässt so eine nährstoffreiche Mulchschicht. Da Orchideen aber einen nährstoffarmen, mageren Boden benötigen, hat Biotopmanager Spielmann die Planung dahingehend angepasst, dass ein Waldarbeiter die Magerwiesen unter der Trasse alle drei Jahre mäht und das Astwerk beiseitelegt, neben die Wiese. „So können sich die Orchideen entfalten.“
Ein passgenauer Pflegeplan für jede Trasse
In den kommenden Wochen sollen die Arbeiten beginnen – eine von zigtausend Pflegemaßnahmen, die Amprion von Oktober bis Februar deutschlandweit auf seinen Stromtrassen veranlasst. Als erster Netzbetreiber in Deutschland hat Amprion vor mehr als zwei Jahrzehnten ein Konzept zur ökologisch optimierten Trassenpflege entwickelt. Inzwischen sind alle Flächen unter Amprion-Stromleitungen – etwa 11.000 Hektar – kartografiert und in Biotope eingeteilt. Das Konzept zielt darauf, Pflanzen und Böden auf den Trassen so zu pflegen, dass sie den Betrieb der Leitungen nicht gefährden. „Andererseits sehen wir unsere Verantwortung darin, die Vielfalt der Pflanzen- und Tierwelt zu erhalten und zu fördern“, sagt die Amprion-Expertin Claudia Jaehrling. „Deshalb stimmen wir Pflegemaßnahmen genau auf die Bedürfnisse der auf einer Trasse lebenden Flora und Fauna ab.“ Dafür bekommt Amprion Lob von Fachleuten: Gemeinsam mit lokalen Partnern erhielt das Unternehmen 2014 für ein Trassenpflegeprojekt bei Wuppertal den Deutschen Landschaftspflegepreis. Er wird einmal im Jahr vom Deutschen Verband für Landschaftspflege verliehen – eine Art „Oscar“ der Branche.
Sanftes Eingreifen
Biotopmanager Spielmann und Förster Jacobs blicken in die Ferne. Hinter dem Hügel mit der Orchideenwiese senkt sich die Stromleitung in ein Tal. Links und rechts erstreckt sich ein Mischwald mit hohen Fichten, Eichen und Zitterpappeln – der Binger Wald. Unter den Stromleitungen wachsen Büsche und Bäume. „Bei der Pflege wollen wir erreichen, dass die Fläche unterhalb der Freileitung dauerhaft mit Gehölzen bedeckt ist – aber solchen, die langsam wachsen, wie etwa Eichen und Buchen“, erklärt Günter Lips, bei Amprion verantwortlich für den Netzbetrieb im Saarland, in Rheinland-Pfalz und Teilen von Hessen. Der Fachmann spricht von einem „gestaffelten Aufbau“ der Trasse, wobei die Bäume zu den Rändern hin höher werden. Wie bei einer Wanne, die sich sanft nach innen wölbt. „Freileitungstrassen, die einen Wald durchqueren, sollten nach Möglichkeit diese Wannenform haben“, sagt er. Bei der Pflege gelte der Grundsatz: „Wir greifen häufiger ein, aber sanft.“ Und das bedeutet: kontinuierliches Stutzen, Häckseln, Mähen und Mulchen.
Ein paar Meter weiter kracht es. Ein weiterer Ast der Eiche fällt zu Boden. „Einen Teil des Grünschnitts lassen wir im Wald liegen und verrotten“, sagt Matthias Spielmann. „So gelangen die Nährstoffe zurück in den Boden.“ Das sei gut für die Ökologie, aber zugleich auch wirtschaftlich. „Früher wurden Hölzer und Grünschnitt tonnenweise aus den Wäldern geholt.“ Das entfällt heute. Trotzdem sind die Aufwendungen für die ökologisch optimierte Trassenpflege nicht gering: Mehr als eine Million Euro gibt Amprion dafür im Saarland, in Rheinland- Pfalz und Teilen von Hessen aus, bundesweit sind es 3,2 Millionen Euro. „Das ist Teil unserer Verantwortung, die wir als nach haltig wirtschaftendes Unternehmen wahrnehmen“, sagt Günter Lips. „Gleichzeitig stellen wir damit sicher, dass wir unsere Leitungen sicher und zuverlässig betreiben können.“