Keine Versorgungssicherheit ohne Systemstabilität
Wo steht die Energiewende gerade? Und was haben die vergangenen zehn Jahre für die Transformation des Energiesystems gebracht? Amprion-CEO Dr. Hans-Jürgen Brick zieht Zwischenbilanz – und skizziert Lösungen für eine sichere und effiziente Stromversorgung.
Wo stehen wir auf dem Weg zu einem klimaneutralen Energiesystem?
Wir haben im vergangenen Jahrzehnt erhebliche Fortschritte beim Ausbau erneuerbarer Energien erzielt. Allein 2023 wurden mehr als 18 Gigawatt (GW) Leistung an Windkraft- und Photovoltaikanlagen installiert. Leider ist es nicht gelungen, das Tempo des Netzausbaus und die Dynamik bei den erneuerbaren Energien aufeinander abzustimmen. Deshalb laufen die Kosten aus dem Ruder. Das ist sicherlich nicht im Interesse der Netzkunden. Sie müssen die Kosten über die Netzentgelte mittragen. Die erneuerbaren Energien sind außerdem nicht ausreichend in den Markt integriert – auch das ist teuer. Wir müssen also Windkraft- und Photovoltaikanlagen nicht nur anschließen, sondern auch ins System und in den Markt integrieren. Nur so wird das klimaneutrale Energiesystem auch bezahlbar.
Aber der Netzausbau hat doch Fahrt aufgenommen?
Ja, die Planungs- und Genehmigungsverfahren für den Netzausbau sind in den vergangenen zwei Jahren stark beschleunigt worden. Das kann aber nicht die Versäumnisse der Jahre zuvor kompensieren. Wir brauchen noch drei bis vier Jahre, um den Netzausbau mit dem dynamischen Ausbau der erneuerbaren Energien zu synchronisieren. Dann werden die ersten zentralen Nord-Süd-Verbindungen in Betrieb gehen. Dadurch reduzieren sich Engpässe im Netz deutlich – und wir können mehr grünen Strom in die Verbrauchszentren bringen.
Wie steht es um die Systemstabilität?
Es häufen sich systemkritische Netzzustände wie zum Beispiel am 15. Mai 2024: Wegen der hohen regionalen Einspeisung erneuerbarer Energien hatten wir an diesem Tag einen enormen Bedarf an Redispatch in Höhe von etwa 12,5 GW. Um das Netz zu stabilisieren, mussten wir unter anderem etwa sechs GW an erneuerbaren Energien abregeln. Zum Vergleich: 12,5 GW entsprechen der Leistung von etwa 15 Großkraftwerken oder der Energieversorgung von etwa 15 Millionen Haushalten. Diese Zahl verdeutlicht, wie groß die Herausforderung war, das System zu stabilisieren.
Woran krankt das System?
Es gibt noch kein schlüssiges Gesamtkonzept für ein klimaneutrales und zugleich sicheres und effizientes Energiesystem. Beispiel eins: Die vielen neuen Photovoltaikanlagen, die gerade gebaut werden, werden zwar ans Netz angeschlossen, aber nicht in das System integriert. Beispiel zwei: In den vergangenen zehn Jahren wurden kaum Großkraftwerke gebaut, die gesicherte Leistung bereitstellen. Stattdessen wurden viele vom Netz genommen – dieser Trend wird sich fortsetzen. Und es gibt im Markt aktuell keine Bereitschaft, in den Zubau von Gaskraftwerken zu investieren. Beispiel drei: Die konventionellen Kraftwerke haben bislang auch wichtige Systemdienstleistungen erbracht – das sind vor allem Momentanreserve und Blindleistung. Nun fallen sie weg. Ohne Systemstabilität gibt es jedoch keine Versorgungssicherheit.
Stattdessen laufen die Kosten aus dem Ruder?
Der unkontrollierte Zubau von erneuerbaren Energien und der Mangel an Flexibilitäten führen zu erheblichen Marktverwerfungen. Wir Übertragungsnetzbetreiber schätzen, dass zur Finanzierung des EEG-Kontos in diesem Jahr etwa 20 Milliarden Euro aus dem Klima- und Transformationsfonds aufgewendet werden müssen. Sinnvoller wären diese staatlichen Mittel zu nutzen, wenn sie zur Finanzierung der Engpassmanagementkosten herangezogen werden. Sie könnten als Transformationskosten aus den Netzentgelten herausgelöst werden. Das würde alle Netzkunden entlasten. Um es klar zu sagen: Wir haben derzeit ein volkswirtschaftlich ineffizientes Energiesystem. Und das wird sich auch nicht ändern, wenn wir über den verstärkten Einsatz von Freileitungen für Netzausbauprojekte diskutieren, die jenseits der 2030er Jahre realisiert werden sollen. Diese Diskussion hilft uns bei der aktuellen Kostenbelastung nicht weiter. Denn die Kostentreiber in den Netzentgelten sind zurzeit nicht die Kapitalkosten für einen Netzausbau von Projekten nach 2035. Es sind vielmehr die Kosten für das Engpassmanagement – sie werden heute verursacht.
Was sollte jetzt konkret passieren?
Zunächst einmal: In einem Energiesystem, das vollständig auf erneuerbaren Energien basiert, muss es finanzielle Anreize für das Vorhalten von gesicherten Erzeugungskapazitäten geben: Ein umfassender, zentraler Kapazitätsmarkt mit lokaler Komponente ist der richtige Weg. Amprion hat bereits vor Jahren mit dem Konzept eines „Systemmarkts“ einen Vorschlag gemacht, den mittlerweile auch die anderen Übertragungsnetzbetreiber unterstützen. Um einen versorgungssicheren Kraftwerkspark 2030 zu erreichen, wären jenseits der heute absehbaren Neubauten weitere etwa 21 GW an Kraftwerksneubauten nötig. Das übersteigt die geplanten Ausschreibungsmengen der Kraftwerksstrategie bei Weitem. Es geht aber nicht nur um pure Leistung: Die neuen Gaskraftwerke müssen an den richtigen Stellen im Netz installiert werden. Unsere Auswertungen zeigen, dass die Verortung im Norden weniger effizient ist als die stärkere Verortung im Süden. Optimal wäre eine Verteilung zu einem Drittel im Norden zu zwei Dritteln im Süden. Deshalb gilt: Jedes neue Gaskraftwerk im Süden ermöglicht einen schnelleren Kohleausstieg.
Welche Lösungen brauchen wir darüber hinaus?
Windkraft- und Photovoltaikanlagen, aber auch Elektrolyseure und Speicher müssen zukünftig Momentanreserve und Blindleistung liefern und damit zu den tragenden Säulen der Systemstabilität werden. Dafür muss die Roadmap Systemstabilität der Bundesregierung in einem hohen Tempo umgesetzt werden. Und: Wir brauchen eine bessere Synchronisierung des Ausbaus erneuerbarer Energien, des Netzausbaus und der Lastflexibilisierung, um die aktuell zu beobachtenden Marktverwerfungen einzudämmen und mögliche Auswirkungen auf die Systemstabilität zu verhindern. Es darf keine eindimensionalen Lösungen geben, sondern wir müssen das Energiesystem als Ganzes in den Blick nehmen.
Warum Momentanreserve und Blindleistung so wichtig sind
Momentanreserve
Rotierende Massen im Netz verschaffen im Fehlerfall wertvolle Sekunden. Es handelt sich um zusätzlichen Strom, der als Sicherheitspuffer sofort bereitsteht, falls es im Stromnetz zu plötzlichen Änderungen kommt. Momentanreserve hält die Frequenz im Stromnetz im Gleichgewicht.
Blindleistung
Sie bildet eine Art Stütze im Stromnetz, indem sie die Spannung stabil hält. Sie ist notwendig, um elektrischen Strom über große Entfernungen zu transportieren. Je weiter die Transportstrecke, desto mehr „Stützen“ sind notwendig.