von Dr. Hans-Jürgen Brick
Wenn wir die Energiewende „vom Ende her“ denken, zeigt sich: Die Weiterentwicklung des Marktdesigns kann die richtigen Anreize für das klimaneutrale Energiesystem der Zukunft setzen.
Der Kampf gegen den Klimawandel und seine Folgen erhöht den Druck, das Energiesystem umzubauen. Gleichzeitig wollen wir die Grundlagen unserer Industriegesellschaft erhalten. Wie schaffen wir das? Die Antwort ist leicht formuliert, doch sie hat es in sich. Wir müssen jetzt die Energiewende „vom Ende her“ denken. Um Klimaneutralität zu erreichen, sind heute bereits konkrete Weichenstellungen notwendig. Genauso wichtig ist aber eine stabile Transformationsphase, um die Systemstabilität jederzeit gewährleisten zu können.
Haltepunkte in der Transformation
Aus der Verantwortung des Übertragungsnetzbetreibers nähern wir uns der Antwort aus verschiedenen Richtungen. Mit dem Projekt Systemvision 2050 haben wir ein Gemeinschaftsprojekt gestartet, in dem unterschiedlichste Partner ihre Vision des Energiesystems der Zukunft entwickeln. Das Ziel ist, mit Hilfe von Kooperationen ein gemeinsames Verständnis eines klimaneutralen Energiesystems zu entwickeln und daraus erste Impulse für Maßnahmen heute abzuleiten.
Der Weg in Richtung Klimaneutralität ist aber noch lang. Daher sollten wir Haltepunkte festlegen, an denen wir die Systemstabilität auf Herz und Nieren prüfen. Für einen vorgezogenen Kohleausstieg haben wir dies getan. Wir sehen: Der beschleunigte Ausstieg bis 2030 ist technisch möglich, aber mit konkreten Anforderungen verbunden. Er setzt kurzfristig politische Weichenstellungen zu grundlegenden netz- und markttechnischen Fragen voraus. Der Strommarkt spielt hier eine wichtige Rolle. Wenn wir ihn weiterentwickeln, kann er die richtigen Anreize für das klimaneutrale Energiesystem der Zukunft setzen – als Systemmarkt. Bleiben das Tempo des Netzausbaus sowie das aktuelle Markt- und Regulierungsdesign jedoch gleich, wird der Kohleausstieg bis 2030 das heutige Niveau der Versorgungssicherheit mindern.
Nicht nur gesicherte Erzeugung
Es reicht nicht, nur darüber nachzudenken, ob im Jahr 2030 ausreichend gesicherte Erzeugung vorhanden ist. Für einen Kohleausstieg bis 2030 müssen wir alle Elemente betrachten, die für einen sicheren Systembetrieb notwendig sind. Damit verbunden sind vor allem die Fragen zur Netzstabilität. Genehmigungsprozesse von Netzausbauvorhaben müssen daher beschleunigt werden. Ebenso wichtig ist es aber, auch solche zentralen netz- und systemstützenden Aufgaben künftig bereitzustellen, die heute von Kohlekraftwerken übernommen werden. Hier kommt es sowohl auf die Integration von neuen Technologien an als auch auf den Bau neuer Kraftwerke. Der Schlüssel dazu ist ein erweitertes Marktdesign.
Ein erweitertes Strommarktdesign
Es muss so deutlich gesagt werden: Mit Blick auf die Zukunft stößt der Strommarkt in der jetzigen Form an seine Grenzen. Erkennbar ist dies daran, dass in den vergangenen Jahren immer mehr Sonderregeln und Reserven entstanden sind, um die Stabilität des Netzes und die Versorgungssicherheit zu garantieren. Unter dem Strich sind sie teuer und haben den Strompreis für Endverbraucher nach oben getrieben. Und durch den angestrebten Kohleausstieg 2030 steigen die Anforderungen an das Energiesystem weiter. Das Strommarktdesign – wie von der Bundesregierung im Koalitionsvertrag angekündigt – muss sich an die neuen Gegebenheiten anpassen und den Wandel des Energiesystems stützen: Es sollte die neuen Anforderungen der Energiewende pragmatisch bündeln und harmonisieren und dabei die Effizienz von Marktlösungen erhalten. Wir sollten den Strommarkt so aufsetzen, dass er auch die drängenden Fragen zur Systemsicherheit beantwortet: Wie können Systemdienstleistungen sichergestellt werden? Das sind zum Beispiel Leistungen wie Regelenergie oder Momentanreserve, die das Stromsystem stützen, indem sie die Frequenz des Netzes stabilisieren. Und wie werden diese Ressourcen im Energiesystem so eingesetzt, dass sie der Volkswirtschaft dienen?
Der Systemmarkt
Der Systemmarkt ist ein modulares Marktdesign und stellt eine sinnvolle Ergänzung des aktuellen Energy-only-Marktes dar. Er bietet eine Plattform, um sowohl gesicherte Erzeugungsleistung zu beschaffen als auch Systemdienstleistungen zu sichern. Er wirkt daher präziser als ein möglicher reiner Kapazitätsmarkt oder auch der Energy-only-Markt, indem er nicht nur neue Kraftwerke anreizt, sondern auch Allokationssignale sendet, wo neue Kraftwerke oder EE-Anlagen, Speicher und Elektrolyseure entstehen müssen, damit sie zur Systemstabilität beitragen. Denn es kommt auch darauf an, dass solche Anlagen die richtigen Leistungen an den richtigen Stellen im Netz erbringen. Das gilt nicht nur für Anlagen, die die Frequenz im Netz stabilisieren, sondern zum Beispiel auch für solche, die es erlauben, das Netz nach einem möglichen Stromausfall wiederaufzubauen. Erste Analysen zeigen, dass unsere Vorschläge grundsätzlich mit dem EU-Recht vereinbar sind – schließlich setzt das Clean Energy Package einen Rahmen für die marktliche Beschaffung von Systemdienstleistungen. Die Weiterentwicklung zum Systemmarkt hat das Potenzial, die System- und Versorgungssicherheit in dieser kritischen Phase der Energiewende zu unterstützten. Wir bei Amprion sind bereit, diese markttechnische Transformation mit unserer Expertise zu begleiten – und die Energiewende „vom Ende her“ zu denken.
Dieser Beitrag ist im Januar 2022 im Handelsblatt-Journal zum Thema Energiewirtschaft erschienen. Lesen Sie hier das E-Paper.