Im Juni dieses Jahres ist es an drei Tagen zu erheblichen Bilanzkreisabweichungen im deutschen Stromsystem gekommen. Das Netzjournal hat nachgefragt bei Dr. Uwe Bock, Leiter Netzwirtschaft bei Amprion.


Herr Bock, haben Sie die Ursachen für die Frequenzabweichungen an den drei Tagen im Juni ermittelt?

„Grundsätzlich haben diese Frequenzabweichungen ihren Ursprung in einer großen Abweichung zwischen Erzeugung und Verbrauch im deutschen Übertragungsnetz. Unklar ist derzeit noch, wer für dieses Ungleichgewicht verantwortlich ist, unsere Analysen der Bilanzkreise laufen noch. Wir haben aber deutliche Indizien dafür, dass es an diesen Juni-Tagen im Stromhandel zu so genannten Arbitragegeschäften – also im Prinzip Leerverkäufen – gekommen sein könnte. Diese haben zu einer Unterdeckung der Bilanzkreise geführt. Vereinfacht gesagt, wurde also nicht der Strom geliefert, der verkauft wurde und den wir eingeplant haben. Aus dieser Gesamtlage hat sich eine Gefahr für die Systemstabilität entwickelt. Um möglichst schnell ein umfassendes Bild zu bekommen, arbeiten wir eng mit der Bundesnetzagentur und den anderen Übertragungsnetzbetreibern zusammen. Wir müssen sicherstellen, dass sich eine solche Situation nicht mehr wiederholt.“

Das Bild zeigt Dr. Uwe Bock. Er trägt ein weißes Hemd und ein dunkles Jacket.

Dr. Uwe Bock, Leiter Netzwirtschaft Amprion GmbH

Was sind überhaupt Bilanzkreise?

„Elektrische Energie ist in den großen Mengen, die wir im Übertragungsnetz transportieren, nicht speicherbar. Deshalb muss zwischen Einspeisung und Verbrauch in jedem Augenblick eine ausgeglichene Bilanz bestehen. Ein Bilanzkreis besteht aus einer beliebigen Anzahl von Einspeisestellen, wie zum Beispiel Kraftwerke, und Entnahmestellen, also den Kunden in einer Regelzone. Der jeweilige Bilanzkreisverantwortliche ist für eine jederzeit ausgeglichene Leistungsbilanz verantwortlich – über alle seine Einspeise- und Entnahmestellen, gegebenenfalls auch unter Berücksichtigung von Lieferungen aus anderen Bilanzkreisen. Treten hier Differenzen zwischen Einspeisung und Entnahme auf, gleichen wir Übertragungsnetzbetreiber sie mit Regelleistung, die wir über Ausschreibungen am Markt beschaffen, aus.“


Die Bundesnetzagentur hat ein  Maßnahmenpaket vorgeschlagen, um die Bilanzkreistreue zu stärken. Was halten Sie davon?

„Wir begrüßen grundsätzlich die von der Bundesnetzagentur vorgeschlagenen Maßnahmen zur Stärkung der Bilanzkreistreue. Sie entsprechen weitestgehend den Punkten, die wir bereits im Vorfeld der Weiterentwicklung des aktuellen Preisbildungsmechanismus in die Diskussion eingebracht hatten. Wir müssen hier ein System schaffen, das die Bilanzkreisverantwortlichen dazu anreizt, die Bilanzkreisabweichungen möglichst gering zu halten und Möglichkeiten zu arbitrieren, also Leergeschäfte zu machen, erst gar nicht eröffnen. Hierzu ist es aus Sicht der Übertragungsnetzbetreiber notwendig, das aktuelle Verfahren zur Ermittlung des sogenannten Ausgleichsenergiepreises zu überarbeiten. In diesem Zusammenhang sehen wir es auch als zwingend erforderlich an, die Daten auf der Entnahmeseite deutlich früher zu erhalten, als es heute der Fall ist – sinnvoll wäre tagesscharf. Je zeitnäher wir das tatsächliche Verhalten der Bilanzkreise bewerten können, umso genauer und effizienter können wir auf Schwankungen im System angemessen reagieren.“


Was bedeutet in diesem Zusammenhang der so genannte Ausgleichsenergiepreis?

„Vereinfacht ausgedrückt kann man sagen, dass der Ausgleichsenergiepreis der Preis ist, den Bilanzkreisverantwortliche an den Übertragungsnetzbetreiber zahlen müssen, wenn sie in ihren Bilanzkreis weniger Strom einspeisen als auf der Entnahmeseite gefordert wird, und den sie erhalten, wenn sie mehr als erforderlich einspeisen. Ist mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit dieser Ausgleichsenergiepreis absehbar niedriger als der Preis an der Börse, so eröffnen sich hier die angesprochenen Arbitragemöglichkeiten. Der für den Bilanzkreis Verantwortliche verkauft dann die eigentlich für den Ausgleich seines eigenen Bilanzkreises vorgesehene Energie an der Börse.“


Was sind nun die nächsten Schritte?

„Wir müssen die Methode ändern, wie dieser Ausgleichsenergiepreis zustande kommt, um die bestehenden falschen Anreize zu beseitigen. Dies werden wir gemeinsam mit den anderen Übertragungsnetzbetreibern und der Bundesnetzagentur angehen. Wir begrüßen auch, dass die Bundesnetzagentur angekündigt hat, Aufsichtsmaßnahmen einzuleiten, wenn es Anzeichen für Leergeschäfte gibt. Uns Übertragungsnetzbetreiber bleibt als Sanktion unter bestimmten Bedingungen nur die Kündigung des Bilanzkreisvertrags – und das bedeutet für unsere Vertragspartner, dass sie keine Geschäftsgrundlage mehr haben.“


Vielen Dank für das Gespräch, Herr Dr. Bock!



Weiterführender Link:

Pressemeldung Bundesnetzagentur:  Maßnahmenpaket zur Stärkung der Bilanzkreistreue


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